Donnerstag, 11. November 2004

77.000 Marburger gedenken der Novemberpogrome

Die Oberhessische Presse in ihrer Mittwochsausgabe (2004-11-10) mit ihrer besonderen Stärke -- nämlich genau das nicht zu schreiben, was berichtenswert wäre:

Oberhessische Presse

Veranstaltung
Gedenken an Synagoge soll Erinnerung wach halten

Das Gedenken an die Synagoge soll die Erinnerung wach halten? Oder soll das Gedenken am Ort der ehemaligen Synagoge die Erinnerung wach halten? "Wach halten"?! Zum Bedürfnis der Marburger nach Ruhe unten mehr.

Die Gedenkveranstaltung an der ehemaligen Synagoge fand im Schneetreiben statt. Foto: Hitzeroth

Marburg. Zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gab es gestern eine Gedenkstunde im Schneetreiben vor dem Mahnmal für die Synagoge.

"Mahnmal für die Synagoge"? Hier irrt der OP-Autor -- er sollte irgendwann einmal die vollständige Inschrift der 1963 errichteten Marburger "Grabplatte" (eine treffendere Bezeichnung als "Mahnmal") lesen: "Errichtet von der Philipps-Universität zum Gedenken an die am 10. November 1938 frevlerisch zerstörte Synagoge und an unsere ermordeten jüdischen Mitbürger".

von Manfred Hitzeroth

Am 9. November 1938 brannte wie in ganz Deutschland auch in Marburg die Synagoge - angezündet von Nationalsozialisten.

Am 8. (achten) November 1938 stellte der jüdische Kaufmann Samuel Bachrach bei seinem morgendlichen Besuch in der Synagoge Beschädigungen durch Steinwürfe und Brandsätze fest. Dokumentiert ist dies durch seine Strafanzeige vom gleichen Tag beim Oberbürgermeister der Stadt Marburg als Ortspolizeibehörde, der durch einen Kriminal-Oberassistenten festhalten ließ:

"Die Feststellungen am Tatort ergaben, dass in der Nacht zum 8. November 1938 durch unbekannte Täter 9 Scheiben der in der Universitätsstraße gelegenen Synagoge durch Steinwürfe zertrümmert worden waren. Die Steine lagen teils im Betsaal der Synagoge und teils im Vorgaten. Ausserdem fanden sich an der südöstlichen Giebelseite des Gebäudes und zwar in unmittelbarer Nähe des Fensters zum Heizungskeller, die Überreste zweier Weinflaschen vor. Offensichtlich waren diese beiden Flaschen mit einer Flüssigkeit gefüllt, mit Papier und Lumpen verkorkt und an der fraglichen Stelle zur Entzündung gebracht worden." (Aus: LG Marburg 2 Kls 42/47 Blatt 30)

Der zweite Brandanschlag auf die Marburger Synagoge fand in der folgenden Nacht (8. auf den 9. November) statt, jedenfalls stellte der jüdische Lehrer Salomon Pfifferling auch am 9. November Brandgeruch in der Synagoge fest. Am Nachmittag dieses Tages wurden weitere Fensterscheiben eingeschlagen und von den Marburger Hitlerjungen Möbel aus dem Fenster geworfen, ohne daß die Polizei eingriff. Laut Brandbericht der Marburger Feuerwehr (die bereits in den Tagen zuvor eine Brandübung für die benachbarten Häuser durchgeführt hatte) erfolgte der "Alarm" um 6:07 Uhr (mindestens 30 Minuten nach der Brandstiftung) am 10. (zehnten) November 1938 und 73 Marburger Feuerwehrleute waren anschließend fünf Stunden damit beschäftigt, zusammen mit uniformierten SA und SS Posten sowie einer Hundertschaft Polizei, die Synagoge abzubrennen (beziehnungsweise "die wertvolle Bausubstanz in der Nachbarschaft zu schützen"). Das Bauamt der Stadt Marburg ordnete noch am gleichen Tag die Sprengung der Synagogenkuppel an, die den Brand überstanden hatte. Allen üblicherweise bekannt langwierigen Verwaltungsvorgängen zum Trotz konnte diese Anordnung dann auch noch am selben Tag durchgeführt werden...

"Gedenkstätten wie hier in der Universitätsstraße am Standort unserer ehemaligen Synagoge suchen wir auf, um auch 66 Jahre nach der Zerstörung des Gotteshauses durch die Schergen des Nationalsozialismus die Erinnerung wach zu halten", sagte Oberbürgermeister Dietrich Möller (CDU) gestern abend. "Wir, die Lebenden, haben die Verpflichtung gegenüber den Opfern und den Überlebenden alles zu tun, damit sich die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 nicht wiederholt", sagte Möller. Der Marburger Oberbürgermeister erinnerte vor knapp 100 Teilnehmern der Gedenkstunde an die mehr als sechs Millionen Opfer des Terrors der Nationalsozialisten. Diese Menschen seien wegen der Zugehörigkeit zu einer "so genannten Rasse", einer Religionsgemeinschaft oder einer politischen Partei verfolgt und ermordet worden.

Hat Oberbürgermeister Möller zu viel Martin Hohmann (respektive Joseph Goebbels) gelesen? In welcher "politischen Partei" waren nach seiner Ansicht die Opfer der Shoa Mitglied?!?

Die Lehren aus dieser blutigen Geschichte zu ziehen, sei ein wichtiger Auftrag für die Lebenden. Dennoch, so Möller, würden auch heutzutage auf dem Balkan, im Irak oder in Nordkorea "die Menschenrechte mit Füßen getreten".

Massaker durch (von deutschen Medien unterstützte) UCK-Terroristen und Giftgas-Angriffe auf kurdische Dörfer (mit deutschem Gas und deutschen Waffen)? Hier denkt Möller zu spät nach -- er kann aber immer noch eine Protestdemonstration in der Glinkastrasse 5-7 in Berlin (Nordkoreanische Botschaft) organisieren.

Als Fazit seiner kurzen Rede rief der Oberbürgermeister den Zuhörern bei der Gedenkstunde zu: "Nie wieder Holocaust, dies bleibt vorrangig ein wesentlicher Auftrag unserer parlamentarischen Demokratie". Nach Möllers Rede sprach Amnon Orbach, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Marburg. Im Anschluss an die Gedenkfeier fand in der Marburger Universitätskirche ein Benefizkonzert zugunsten der neuen Synagoge statt. Unter der Leitung von Martin Weyer musizierte der Kurhessische Bläserkreis.

Im Anschluß an Möllers Rede und zum Abschluß der Gedenkveranstaltung, für die sich 76.900 Marburger (wie jedes Jahr) nicht interessierten, sprach (wie jedes Jahr) der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde das Kadisch (Totengebet). Unterbrochen wurde sein Vortrag kurz von einer hysterischen Frauenstimme, die aus einem Fenster eines Hauses in der Untergasse für alle Teilnehmer der Gedenkveranstaltung vernehmlich "Halts Maul!" rief. In der Untergasse befand sich eines der Ghettohäuser, in denen die Marburger Juden schon vor der Deportation zusammengepfercht wurden.

"Erinnerung wach halten"?!?

Am 10. November 1938 hatte das Vorgängerblättchen der Oberhessischen Presse geschrieben:

Ein Fanal der Vergeltung

Als gestern in den Abendstunden die Nachricht von dem Ableben des Gesandschaftsrats I. Klasse von Rath infolge des Anschlags des jüdischen Meuchelmörders Grünspan bekannt wurde, bemächtigte sich in unserer Stadt aller Volksgenossen eine gewaltige Erregung. Wo man hinhörte, war eine ungeheure Empörung über den Mord festzustellen, zumal es gerade der Totengedenktag der Bewegung war, an dem dieser letzte Blutzeuge des Großdeutschen Reiches sein Leben beschloß.

Da kann man es verstehen, daß die erregten Volksgenossen ihrer Wut in irgend einer Form Ausdruck geben mußten. Die Synagoge war das Opfer. Dieser Bau, der den Mittelpunkt des jüdischen Ungeistes darstellt, ging heute in den frühen Morgenstunden in Flammen auf. Die Feuerwehr war in eifriger Pflichterfüllung bemüht, das Feuer von den umliegenden Häusern fernzuhalten, was ihr auch vollkommen gelang. Die S.A., die schnell alarmiert wurde sorgte in Gemeinschaft mit Polizeibeamten für die Sicherheit der die Universitätsstraße benutzenden Bevölkerung durch Absperrung der Brandstätte. Auch bemühte sie sich, das Eigentum des in dem Kellergeschoß des Judentempels wohnenden Volksgenossen in der gegenüberliegenden Schule in Sicherheit zu bringen.

Selbstverständlich hatte sich an der Brandstelle eine große Menschenmenge eingefunden, die ihrer Entrüstung über den feigen jüdischen Mord und ihre Befriedigung über diese -- verhältnismäßig geringfügige -- Vergeltungsmaßnahme zum Ausdruck brachte, sich dabei aber vorbildlich diszipliniert verhielt.

Der Bau ist vollkommen ausgebrannt, sodaß nur noch die Umfassungsmauern stehen. Damit ist gleichzeitig ein Gebäude verschwunden, das infolge seines asiatischen Stils und seiner klobigen Gestalt unser schönes Stadtbild empfindlich verschandelte.

Die Empörung über den hinterhältigen jüdischen Mordanschlag hat allenthalben die deutsche Bevölkerung in Empörung versetzt. Auch in Kirchhain wurde von den empörten Volksgenossen die dortige Synagoge beschädigt, ebenso auch das jüdische Gemeindehaus. Ähnliche Vorkommnisse werden aus anderen Gegenden gemeldet.

(Source: Oberhessische Zeitumg 1938-11-10)

Auch wenn einige Vokabeln heutzutage altertümlich klingen -- deutscher Gesinnungsjournalismus war auch vor sieben Jahrzehnten schon zu "Höchstleistungen" fähig.

Update 2004-11-15:

Ich wurde darüber informiert, daß die Überschrift dieses Beitrages hunderte Marburger EinwohnerInnen aufs schwerste beleidigt: Tatsächlich hat MR nicht 77.000, sondern exakt 78.511 EinwohnerInnen (Stand 2003-12-31).

Veröffentlicht am Donnerstag den 11. November 2004 um 12:45 Uhr - nach oben | check xhtml
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