Seit einigen Tagen findet sich an diversen ausgewählten (?) Auslagestellen (auch in Marburg) ein einseitig bedrucktes/kopiertes DIN A5 Zettelchen, das offensichtlich auf eine Veranstaltung hinweisen soll. Hinterlegt ist der Text mit dem Foto der brennenden Gießener Synagoge.
Hatte ich gerade geschrieben "brennenden Gießener Synagoge"? Auf dem Zettelchen findet sich jedenfalls keinerlei Erläuterung zum "brennenden" Layout. Dort wo heute die Gießener Kongreßhalle residiert (Südanlage 2), befand sich von 1867 bis zum 10. November 1938 eine Synagoge, eine weitere (kleinere?) Synagoge befand sich von 1900 bis zum 10. November 1938 in der Steinstraße 8.
Auf dem "Gedenk"zettelchen findet sich folgender Text:
antifaschistische
GEDENKDEMONSTRATION
zur Erinnerung an die Reichspogromnacht
"Reichspogromnacht"? Das Brockhaus Lexikon - möglicherweise nicht gerade als Avantgarde des kritischen Denkens bekannte Nationalinstitution - bemerkte schon vor zwölf Jahren: "Kristallnacht (nach dem in dieser Nacht zertrümmerten Glas), auch Reichskristallnacht, richtiger und seit den 80er Jahren auch so genannt: Pogromnacht (oder Novemberpogrom) [...]." Unklar ist, worauf hier also die Damen und Herren AutorInnen hinweisen wollen. Soll durch den Zusatz "Reich" darauf hingewiesen werden, daß nicht an eine Bundespogromnacht erinnert werden soll? Oder klingelt in den Köpfen der kreativen DichterInnen aus Gießen immer noch das "Kristall", mit dem schon die (post-NS) Nationalsozialisten die Juden verspotteten? Und was, bitteschön, soll in diesem Zusammenhang eine "antifaschistische GEDENKDEMONSTRATION" sein? Soll aufgezeigt werden, daß kein faschistischer Propagandaaufzug geplant ist? Wem soll Gedenken gezeigt (lat.: demonstrare) werden?
Weiter im Text mit einem seit den 1920er Jahren bekannten (?) Logo:
ANTIFASCHISTISCHE AKTION
Hier veranstaltet also (möglicherweise) die Antifaschistische Aktion. Aber sicherlich nicht jene Ablegerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, die sich spätestens 1933 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei geschlagen geben mußte?
Am 9. November 1938 wurden in ganz Deutschland Jüdinnen & Juden von Nazi-Faschisten, unterstützt von großen Teilen der deutschen Bevölkerung gejagt, geschlagen und ermordet, ihr Eigentum geraubt und Synagogen niedergebrannt.
Eine vereinfachte Darstellung für schlichte jugendliche Gemüter? Täter waren also die "Nazi-Faschisten", Deutsche waren lediglich unterstützend in Gestalt "von großen Teilen der deutschen Bevölkerung" tätig? Nicht die Nationalsozialisten waren ein großer Teil der Deutschen, sondern "große[...] Teile[...]" des deutschen Volkes ("Bevölkerung") kolaborierten?
Wer hat eigentlich den Gedanken "in ganz Deutschland" ausgebrütet? Bekanntlich reichte das ganze Reich im November 1938 bis nach Kärnten. Soll hier behauptet werden, die Pogrome hätten sich auf das Gebiet des sogenannten Altreiches beschränkt - oder wird hier locker Östereich locker Heim-ins-Reich geholt?
Prima auch, daß Frauen und Männer im Falle der Juden durch ein kaufmännisches 'und' miteinander verbunden werden - vielleicht soll so auf den ideologischen Zusammenhang von Zirkulationssphäre und Antisemitismus hingewiesen werden?
Aber was passierte in den Pogrom-Tagen vom 7. November bis 10. November 1938 (für dieses Detail reichte der verfügbare Platz sicherlich nicht?) eigentlich? Es wurde "gejagt, geschlagen[,] ermordet, [...] geraubt[,] niedergebrannt"? Zerstörten die Deutschen nicht auch Wohnungen von Juden? Schändeten die Deutschen nicht auch jüdische Friedhöfe? Wie sah es mit Geschäften von Juden aus? Fielen nicht auch ihre Fensterscheiben dem deutschen/antisemitischen Wahn zum Opfer? Ist es im Zusammenhang des November 1938 erwähnenswert, daß es Juden vier Monate zuvor per Gesetz verboten wurde, Grundstücks- und Immobilienagenturen zu betreiben (linksdeutsch: als Spekulant tätig zu sein)?
Mit diesen Progromen wurde die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden eingeleitet, die in der Shoa ihren barbarischen Höhepunkt fand.
Waren es erst die 1938er Novemberpogrome, die die Shoa einleiteten? Drei Jahre nach dem "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", fünf Jahre nach dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" und dem "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen"?
Was würden die Giessener DichterInnen über folgende Alternativ-Varianten ihres Satzes sagen:
Mit diesen Progromen wurde die Shoa eingeleitet, die in der Vernichtung der deutschen und europäischen Juden ihren barbarischen Höhepunkt fand.
Mit diesen Progromen wurde die barbarische Shoa eingeleitet.
Diese barbarischen Progromen leiteten die Shoa (die Vernichtung der europäischen Juden) ein.
An diesem Tag möchten wir dieser Ereignisse gedenken und zum Ausdruck bringen, dass es keine Relativierung oder einen Schlußstrich unter dieses Kapitel deutscher Geschichte geben darf.
Zum Jahrestag der antisemitischen Novemberpogrome soll "zum Ausdruck" gebracht werden, daß Judenhass lediglich ein "Kapitel" deutscher Geschichte seie? Ist nicht das bereits "Relativierung"? Wen bezeichnet eigentlich das urplötzlich zutage tretende "wir"? Sind damit die Aufrufenden ("Antifaschistische Aktion"? Für die Unterzeichnung des Flugblattes mit einem Namen hat es offensichtlich nicht gerreicht...) oder alle diesem Aufruf folgenden Gedenk-DemonstrantInnen gemeint?
Gleichzeitig wollen wir uns entschieden gegen jegliche Formen von aktuellem Antisemitismus stellen.
Aha. Gemeint ist sicherlich die Gegnerschaft zu Israel-Hass und antisemitischer Antikapitalismus-Hetze?
9. November 2004 17 Uhr
Berliner Platz, Giessen
Da am 9. November der Gedenkcharakter im Vordergrund stehen sollte, bitten wir darum, sämtliche Nationalfahnen (sei es von bestehenden-, nicht mehr bestehenden Staaten(bündnissen) oder wanna-be Staaten) zu Hause zu lassen.
Was, bitte schön, soll nun am 9. November in Gießen "im Vordergrund" stehen? Lieber der "Gedenkcharakter" als die (entschiedene) Gegnerschaft zu "jegliche[n] Formen von aktuellem Antisemitismus"? Was war wenige Zeilen weiter oben mit dem Begriffen "gleichzeitig" und "entschieden" gemeint? Ist Israel ein "wanna-be Staat" - weil Juden nicht zur Bildung von Nationalstaaten in der Lage sind? Sind die USA ein Staatenbündnis, dessen Fahne das Gedenken an die Shoa (die erst durch schwer bewaffnete amerikanische Soldaten - und nicht durch Erinnerungsdemonstrationen - beendet wurde) gefährdet? Oder befürchten die Gießener Palästina- und Saddam-Irak-Fahnen des antiimperialistischen Widerstandes, die zur Vernichtung Israels aufrufen?
Warum sind am 9. November 2004 in Gießen "Nationalfahnen" verboten - Greenpeace-, Jihad- sowie Swastika-Fahnen jedoch geduldet/erlaubt/erwünscht?
Update 2004-10-29 19:00 CEST:
Das Gießener Flugblatt verwendet ein Photo der am 10. November 1938 brennenden Synagoge in der Stephanienstraße in Baden Baden.
Obenstehendes Photo zeigt die männlichen Juden Baden Badens, die am 10. November 1938 dazu gezwungen wurden, durch die Straßen der Stadt zu marschieren.
Source:
United States Holocaust Memorial Museum
Die Synagoge in der Stephanienstraße vor ihrer Zerstörung
(Source: Postkartenausschnitt)